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Gibt es in der Türkei noch freie Wissenschaft?

  • Autorenbild: Çetin Gürer
    Çetin Gürer
  • 24. Jan. 2018
  • 4 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 3. Apr.

Wissenschaft in der Türkei

DIE ZEIT: Herr Gürer, Sie haben über das Philipp-Schwartz-Stipendium für geflüchtete Wissenschaftler eine Stelle als Gastwissenschaftler an der Universität Bremen erhalten. Wieso mussten Sie die Türkei verlassen?

Çetin Gürer: Im Januar 2016 habe ich den Aufruf der "Academics for Peace" für Frieden in den kurdischen Gebieten unterschrieben. Drei Wochen später wurde mir meine Stelle als Dozent an meiner Universität in Istanbul gekündigt. Ich wusste, dass ich in der Türkei keine Chance mehr bekomme, solange Erdoğan Präsident ist. Also habe ich mich im Ausland umgeschaut. Im Sommer 2016 landete ich über das Stipendium in Bremen.

ZEIT: Zur Zeit des Putschversuches?

Gürer: In der Nacht des Putschversuchs waren meine Frau und ich bereits in Deutschland. Unsere Sachen hatten wir aber noch in Istanbul. Weil nach dem gescheiterten Putsch sofort Ausreiseverbote erlassen wurden und die Behörden gegen mich als Unterzeichner der Friedenspetition ermittelten, ist meine Frau – sie ist Deutsche – allein nach Istanbul zurückgekehrt, um den Umzug zu organisieren.

ZEIT: Wie wurden Sie an der Universität Bremen aufgenommen?

Gürer: Von meinen Kollegen wurde ich als Forscher sofort ernst genommen. Aber viele andere an der Universität sahen in mir nicht den Politologen, sondern einen Flüchtling. Ich wurde als jemand wahrgenommen, der in seiner Heimat bedroht ist. Worüber ich forsche, erscheint zweitrangig.

ZEIT: Woran haben Sie das gemerkt?

Gürer: Es ist schwer, das genau zu beschreiben. Aber wenn in Gesprächen als Erstes Ihr Aufenthaltsstatus abgefragt wird, fühlt sich das merkwürdig an. Ich bin zum Beispiel oft gefragt worden, ob ich in Deutschland einen Asylantrag stellen möchte, obwohl ich eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung habe.

ZEIT: War die Lage in der Türkei unter Ihren neuen Kollegen ein großes Thema?

Gürer: Die Lage in der Türkei ist zwischen mir und meinen Kollegen bis heute das Gesprächsthema Nummer eins. Ich wurde automatisch als Türkeiexperte wahrgenommen – was das Land, aber auch was die Lage der Wissenschaft angeht. Natürlich haben mich der Putschversuch und seine Folgen permanent beschäftigt. Mein Körper war in Bremen, aber mein Geist in der Türkei. Das ist bis heute so, meine Familie und viele Freunde sind ja noch dort.

ZEIT: Ist die deutsche Wissenschaft aus Ihrer Sicht politisch?

Gürer: Eigentlich nicht. Viele Sozialwissenschaftler hinterfragen zwar kritisch, was in der Welt passiert, und haben klare Meinungen darüber, was gesellschaftspolitisch schiefläuft. Aber daraus folgen keine Konsequenzen, kein Engagement. Sie tun nichts dafür, die Verhältnisse zu ändern.

ZEIT: Müssen Wissenschaftler Aktivisten sein?

Gürer: Sollen, dürfen, müssen sich Wissenschaftler aktiv einmischen? Das ist eine schwierige Frage. Die deutsche Wissenschaft scheint es als ihre Aufgabe anzusehen, eine kritische Distanz zur gesellschaftlichen Realität zu wahren.

ZEIT: Und das ist in der Türkei anders?

Gürer: Die Situation an den türkischen Hochschulen ist allein dadurch schon politischer, weil die Dozenten tief gespalten sind. Für Erdoğan oder gegen ihn? Deine Haltung wirkt sich direkt auf dein Leben an der Uni aus.

ZEIT: Geht das konkreter?

Gürer: Tausende Erdoğan-kritische Wissenschaftler haben ihre Jobs verloren, das ist ja bekannt. Aber es beginnt im Atmosphärischen. Nachdem ich den Friedensaufruf unterschrieben hatte, wurde ich etwa von Studierenden auf Twitter als "Verräter" beschimpft. Andere wurden vor Gericht gestellt, weil Erdoğan-Fans unter den Studierenden sie denunziert haben, nachdem sie sich kritisch über die Politik der Regierung geäußert hatten. Viele AKP-nahe Wissenschaftler hingegen treten ständig im Fernsehen auf und loben Erdoğan. So wirkt es, als würde die Wissenschaft hinter dem Präsidenten stehen.

ZEIT: Was ist Ihr Eindruck von den deutschen Studenten – sind die politisch?

Gürer: Zumindest wirkt der Bremer Campus so. Viele politische Gruppierungen verteilen Flyer, hängen Plakate auf, organisieren Veranstaltungen. Sie sind im politischen Wettstreit, aber nicht verfeindet. So sollte es auch sein.

"Kritische Wissenschaftler sind nicht mehr sichtbar"

ZEIT: Ist es für Sie im wissenschaftlichen Alltag ein Unterschied, an einer türkischen oder deutschen Universität zu arbeiten?

Gürer: Sowohl türkische als auch deutsche Universitäten befinden sich in Abhängigkeiten, weil Geld fehlt. Die Wissenschaft muss hier wie dort marktwirtschaftlichen Prinzipien folgen. Auch dass in beiden Ländern viele Wissenschaftler unter prekären Bedingungen arbeiten, ist eine Gemeinsamkeit. In Deutschland hat man aber mehr Zeit und eine bessere Ausstattung für die Forschung. Der größte Unterschied ist, dass es an deutschen Hochschulen akademische Freiheit gibt. Hier wird man für seine Meinungsäußerungen nicht verfolgt.

ZEIT: Gibt es in der Türkei noch freie Wissenschaft?

Gürer: Es gibt noch kritische Wissenschaftler, aber sie sind nicht mehr sichtbar. Die meisten trauen sich nicht, sich öffentlich zu äußern. Für Erdoğan hat die Wissenschaft den Zweck, seine Politik zu bestätigen und somit seine Macht zu zementieren. Da er die Universitätspräsidenten ernennt, herrscht eine hohe Abhängigkeit. AKP-nahe Wissenschaftler treten momentan auf wie die Könige.

ZEIT: Sehen Sie Möglichkeiten, die Zustände der türkischen Wissenschaft zu verbessern?

Gürer: Aktuell nicht, denn die Angst ist zu groß. Nicht nur in der Wissenschaft, auch in der Gesellschaft. Es wird ja nicht nur die akademische Freiheit eingeschränkt, sondern alle bürgerlichen Freiheiten. In dieser Lage ist es sehr schwer, die Verhältnisse zu verbessern, das grenzt an Träumerei.

ZEIT: Tut Deutschland aus Ihrer Sicht genug, um die türkische Wissenschaft zu unterstützen?

Gürer: Ich habe meine Hoffnung verloren, dass andere Staaten etwas zum Schutz demokratischer Prinzipien beitragen. Man bekundet stets seine Solidarität, aber mehr passiert nicht. Politik und Diplomatie sollten sich Werten der Demokratie und Freiheit verpflichtet fühlen, das tun sie aber nicht. Merkel weiß genau, wie in der Türkei der Rechtsstaat ausgehöhlt wird. Aber sie unternimmt nichts dagegen. Man kann nur auf eine internationale Bürgerbewegung von unten hoffen.

ZEIT: Sie klingen desillusioniert.

Gürer: Ich habe noch Glück: Als Wissenschaftler denke ich global, und wo ich arbeite, spielt eigentlich keine Rolle. Aber ich kann in die Türkei nicht einmal als Tourist einreisen. Wegen meiner Unterschrift unter die Friedenspetition würde ich schon am Flughafen verhaftet werden.

ZEIT: Würden Sie die Petition heute noch einmal unterschreiben?

Gürer: Zweifellos, ja. Es ist ein Menschenrecht, sich ein konfliktfreies Zusammenleben zu wünschen. Das werde ich nicht aufgeben.


Das Interview wurde von Anant Agarwala für die Zeit geführt und ist zuerst in der Zeit am 24 Januar 2018 erschienen

 
 
 

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